Die Ansprache des Unternehmens erfolgte über den Geschäftsführer. Dieser wurde zunächst für eine Lehrveranstaltung angesprochen, in der Studenten Experteninterviews zur Erkundung von Industrie-4.0-Praxisbeispielen durchführten. Im Rahmen des GAP-Projekts fanden zwei einstündige Unternehmensbegehungen mit dem Geschäftsführer statt, in der auch Fragen an Beschäftigte gestellt werden konnten. Zusätzlich wurden zwei Interviews mit dem Geschäftsführer geführt, der unter anderem Ansprechpartner für den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Unternehmen ist (Unternehmermodell). Zudem wurden der Fertigungsleiter (Maschinenbediener?) und der Leiter der Arbeitsvorbereitung interviewt. Die Dauer der Interviews beträgt durchschnittlich etwa eine Stunde und variiert zwischen 45 und 75 Minuten. Die Interviews wurden mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und anschließend transkribiert.
Praxisbeispiel
Werkzeugbau
Branche: Werkzeugbau
Betriebsgröße: 100 Mitarbeiter*innen
Geschäftssituation: wachsende Entwicklung
Arbeitsverhältnisse:
- Arbeitsverträge überwiegend unbefristet
- Arbeitszeiten überwiegend Vollzeit (Teilzeit möglich)
- Normalarbeitszeiten: ja
- Schichtsystem: nein
- Vertrauens-/Gleizeitregelungen: ja
- regelmäßige Mehrarbeit (bei mehr als 25% der Besch.): k.A.
Arbeitsorte:
- überwiegend betriebliche Arbeitsorte
- (ABER: bei Abteilungen Inbetriebnahme / Service sowie Verkauf beim Kunden, weniger am eigenen Standort)
Betriebliche Mitbestimmung: Ohne Arbeitnehmervertretung
Entlohnung: internes Lohnsystem
Industrie 4.0 Stadium: fortgeschrittene Umsetzung
2. Basisdaten und betriebliche Strukturen
(…)
3. Anwendung neuer Technologien
Digitale Technologien spielen in allen Teilbereichen des Unternehmens eine große Rolle, insbesondere im Werkzeugbau. Seit 2011 wurde ein bedeutender Anteil des Maschinenparks modernisiert und in zwei automatischen Fertigungszellen miteinander vernetzt. Die Vernetzung der Maschinen steht im Fokus der Falldarstellung. Daneben nutzt das Unternehmen zahlreiche weitere digitale Technologien, wie z.B. 3D-Drucker im Ingenieurbüro, individuell konfigurierte Handlingsgeräte an Spritzgussmaschinen sowie ein Dokumentenmanagementsystem im Office-Bereich.
3.1 Automatisierung in der Produktion
3.1.1 Zwei vernetzte Fertigungszellen
Ein wichtiger Bestandteil der Automatisierung sind die beiden vernetzten Fertigungszellen im Werkzeugbau. Die Zellen umfassen mehrere Maschinen, eine Beladestation und in der Mitte einen Roboterarm, der die Werkstücke nach Prioritäten auf freie Maschinenplätze verteilt. Abgesehen von wenigen Schritten erfolgt der Bearbeitungsprozess in den Fertigungszellen von Station zu Station autonom. Eine automatische Qualitätskontrolle sorgt dafür, dass die Fehlerrate gegen Null tendiert. Das Maschinenprogramm (Certa) ist mit dem ERP-System verbunden, was eine exakte Erfassung der Maschinenlaufzeiten ermöglicht. Zwei der Maschinenbediener haben die Möglichkeit, von mobilen Endgeräten über die Software Teamviewer auf die Anlage zuzugreifen.
Die erste Fertigungszelle ist für die Fertigbearbeitung konzipiert (u.a. feinfräsen, erodieren…) und wird 2011 im Zuge einer Erneuerung des Maschinenparks errichtet. Der Roboterarm kann 250kg auf einer Fläche von 320 x 320cm bewegen. Die zweite Fertigungszelle wird 2013 für Vorfräsarbeiten (Schrubben, Kühlung bohren…) konstruiert. Auf einer Fläche von 500 x 500cm trägt der Roboterarm eine Last bis 1,5t.
3.1.2. Produktivitätsfortschritte durch Automatisierung
Auf beiden Fertigungsstrecken können durch Vernetzungs- und Automatisierungsvorgänge erhebliche Produktivitätsfortschritte und Zeitersparnisse realisiert werden. Nach Angaben des Fertigungsleiters hat sich der Ausstoß mit Errichtung der ersten Fertigungszelle verdrei- bis vervierfacht.
Jetzt ist das ja natürlich überhaupt nicht mehr damit zu vergleichen. Wir schaffen in der Anlage am Tag im Schnitt 60 bis 80 Elektroden, wo wir vorher, auch mit nur einer Maschine vielleicht 20 am Tag geschafft haben. Also das ist schon immens schneller geworden. (F)
Die zweite Fertigungsstrecke ermöglicht es vor allem Bohrungen erheblich schneller durchzuführen. Die große Zeitersparnis – statt mehrerer Minuten werden nur wenige Sekunden benötigt – wird an anderer Stelle zumindest teilweise wieder aufgebraucht. So benötigt die Arbeitsvorbereitung die eingesparte Zeit bei den Bohrungen zur Programmierung der Maschine – ein Vorgang der perspektivisch automatisiert werden soll. Da eine Nachbearbeitung entfällt, hat sich die Montage der Werkzeuge von 2 bis 3 Wochen auf 40 Stunden verkürzt. Die eingesparte Arbeitszeit wird in der Konstruktion und der Arbeitsvorbereitung benötigt, so dass es zu einer Verlagerung der Beschäftigung kommt.
Die Maschine baut die Löcher, [was] früher händisch 12 Minuten gebraucht hat für Zehnerloch 100 mm tief, (das) macht die Maschine in 20 Sekunden. Also das ist der Vorteil von der Maschine. Brauchst aber jemanden, der das halt programmiert und der braucht, um das Loch zu programmieren 12 Minuten. (…) Auf der anderen Seite ist es so, das lässt sich dann wieder automatisieren. Wenn man die Schwachstelle erkennt, sagt man, hier, ich weiß, ich kann da wieder automatisieren. Ich kann da irgendwo Programme abfassen. Ich kann die Leute in diese Richtung drängen. (GF)
3.1.3. Eingeschränkte Selbstorganisation
Die Maschinen haben ein automatisches Anlaufsystem, welches es ermöglicht, verschiedene Abläufe im Vorfeld zu programmieren. Beispielsweise kann eingestellt werden, welche Maschine wann hochfährt um z.B. Spannungskapazitäten nicht zu überschreiten. Aufgrund der Automatisierung entfallen für die Maschinenbediener Programmierschritte, welche nun von der Arbeitsvorbereitung durchgeführt werden.
Die Maschinenbediener sind Maschinenbediener, keine Programmierer mehr. Also jedenfalls alles, was die Automatisierung angeht. Wir haben drei noch klassische Fräsmaschinen, da wird noch viel mit der Hand auch noch mal geschrieben. (AV)
Die Übermittlung der Programmcodes an die Fertigungsstrecke – die sogenannte Verheiratung von Werkstück und Maschinen – erfolgt über RFID-Chips. In der Umgangssprache der Praktiker werden die Werkstücke oder Werkzeuge „gechippt“. D.h., die Information über den letzten Bearbeitungsschritt aus dem Chip wird ausgelesen und eine neue Information über die aktuelle Station oder den aktuellen Zustand wird dem integrierten Chipelement hinzugefügt. Dieser Vorgang erfolgt nicht ausschließlich in selbstgesteuerter Eigenregie der Maschinen, der Mitarbeiter fügt Zusatzinformationen hinzu, bestätigt oder prüft den Vorgang. Erst dann werden die Maschinen in der Fertigungszelle aktiv und entscheiden entsprechend ihrer programmierten Vorgaben:
Also ich hab ein Teil, das schraube ich auf die Palette. Chippe das, sage was es ist. Dann tu ich die Beladestation auf, stelle mein Teil rein, chippe die Beladestation und chippe das Teil. Somit weiß der, das Teil ist in dieser Beladestation. Nimmt sich das und tut es auf irgendein freien Platz. (MB)
3.1.4. Partielle Insellösungen
Im Produktionsprozess übernehmen die Fertigungszellen die unmittelbare Verarbeitung des Werkstücks. Das Personal programmiert, steuert und überwacht die Anlagen. Die für cyber-physische Systeme charakteristischen technischen Grundlagen (Sensorik, Aktorik, Software, Kommunikations- und Mensch-Maschine-Schnittstellen) sichern die Funktionalität auf einem hohen Niveau, wenn auch immer noch als (zwei) Insellösungen innerhalb des Betriebes.
Trotz der stetig wachsenden Automatisierung betont das Management bislang den Stellenwert des Menschen zur Überwachung und Koordinierung der Abläufe. Auch Beschäftigte sehen, wie die Prioritäten des Managements einen Einfluss auf die programmierten Abläufe ermöglichen. Im „Rapport festgelegt“ können Mitarbeiter durch „Einspruchsrecht“ Prioritäten verschieben. Beispielhaft schildert ein Beschäftigter in der Fertigung, dass neben den vorrangigen Managementvorgaben verhandelbare Kundenanforderungen Spielräume in der Abarbeitung von Aufträgen eröffnen:
Also wenn du dann aufhörst, Menschen nicht mehr zu haben oder sowas und ähm, die Prioritäten werden eigentlich bei uns im Rapport festgelegt, also die Geschäftsleitung legt sie als erstes fest, dann wird diskutiert, ob diese Prioritäten auch so in Ordnung sind, also es gibt da auch ein Einspruchsrecht. Also sprich, wir haben fünf Werkzeuge zu machen und wenn ich das Werkzeug mache, werde ich das nicht fertig kriegen, ja. Das ist aber recht unbedeutendes, mit dem kannst du dich, also mit dem Kunden kannst du reden, der brauchts nicht gleich, ist ein Ersatzwerkzeug, also ruft man an, sagt: ‘Pass mal auf, ich mach erstmal das fertig erstmal.‘ (MB)
3.2 Datenerfassung und -nutzung
3.2.1. Daten zur Realisierung von Produktivitätspotenzialen
Die automatisierten Fertigungsstrecken erzeugen eine Vielzahl von Daten. Diese werden genutzt um Optimierungspotenziale aufzuspüren und so weitere Zeit- und Kosteneinsparungen zu realisieren. So überprüft beispielsweise ein Praktikant den Materialverbrauch an Fräsern und sucht nach möglichen Einsparungen.
Also wir verbrauchen … pro Jahr ungefähr 70.000 € Fräser. Da ist es natürlich interessant, warum verbrauche ich so viele Fräser, wie kann ich das beeinflussen? Und dann suche ich mir natürlich in dem Rahmen der Möglichkeiten, der Einflussmöglichkeiten, die Punkte, wo ich angreifen kann. (GF)
3.2.2. Zuverlässigkeit der Daten
Theoretisch lassen sich die Maschinendaten auch zur Leistungsbewertung der Mitarbeiter nutzen. Praktisch ergeben sich jedoch aus Sicht des Managements Schwierigkeiten. Der Geschäftsführer schildert, dass Mitarbeiter Maschineneinstellungen verändern können, so dass die Interpretation der auslesbaren Daten schwieriger wird und zu falschen Schlussfolgerungen führen kann. Ohne die Erfahrung einer tatsächlichen Manipulation der Daten durch die Mitarbeiter schildert er, welche Möglichkeiten bei der Abrechnung der Arbeitszeit bestehen:
Sie können das bei einer Fertigungszelle relativ gut machen, wenn Sie wollen, aber (…) ich bin da schon so oft reingefallen. Ein Beispiel: Der Mitarbeiter ist acht Stunden auf Arbeit, ich kann die Spindelzeiten abrechnen. Die Spindel sagt dir noch nicht, ob sie mit vollem Vorschub läuft oder langsamer läuft. Wenn ich also als Mitarbeiter feststelle, ich habe noch fünf Stunden zu tun, und wenn ich jetzt normal weitermache, dann bin ich einer Stunde fertig oder ich tu einfach das Programm auf 20% stellen und dann bin ich gerade zum Feierabend fertig. Das sind also auch Sachen, die man objektiv abrechnet, aber wo man aber subjektiv richtig daneben liegen kann. (GF)
3.2.3. Datenerfassung und -nutzung durch ERP-Software
Ein wichtiges Instrument der Datenerfassung und -nutzung im Unternehmen ist das ERP-System. Das Unternehmen nutzt seit 1996 ein ERP-Programm, welches seither zweimal umgestellt wurde. Das aktuelle System ist mit dem mit dem Maschinenprogramm (Certa) verknüpft und kann unter anderem Bearbeitungszeiten von Maschinen einlesen. Einerseits werden Produktionsdaten automatisch im ERP-System dokumentiert, andererseits sind aber auch die Mitarbeiter gefragt, Informationen einzuspeisen. So kann durch ein gut gepflegtes Datenbanksystem beispielsweise beim Kauf von Rohstoffen (hier: Stahl) festgestellt werden, ob dieser mit dem vorhandenen Maschinenpark im Unternehmen (hier: eine geeignete Säge) bearbeitet werden kann. Dann zeigt die ERP-Software im entsprechenden Menüpunkt nur den Stahl an, „der da speziell geeignet ist.“ (GF)
Damit die ERP-Software als Assistenzsystem beim Einkauf funktioniert, wurden im Unternehmen entsprechende Konfigurationen vorgenommen, von denen der Geschäftsführer berichtet:
Also man kann in der Datenbasis etwas verankern … und das [Wissen] aber auch bereitstellen, ja. Das ist genauso wie in meinem ERP-Programm, da ploppen immer bestimmte Fenster auf und diese Fenster sagen mir immer, wenn du das machst, ja, passiert das. Also ich habe mir da so Warnhinweise angebracht. GF
3.3 Technologieeinführung und Beteiligung der Beschäftigten
3.3.1. Technikeinführung als zentralisierte Entscheidung
Der intensive, sich auf alle Geschäftsprozesse erstreckende Digitalisierungspfad wird nicht allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen verfolgt. Nach Auskunft des Managements ist der Druck zu innovieren innerhalb der Branche eher gering. Der digitalisierungsaffine Kurs des Unternehmens entspringt wesentlich einer Technikbegeisterung des Geschäftsführers, der als einer von drei Ingenieuren die Firma aufgebaut hat. Er sieht sich als Vorreiter in Sachen Digitalisierung, initiiert Pilotprojekte mit Forschungseinrichtungen und ist in überbetriebliche Netzwerke und Initiativen im Themenfeld Industrie 4.0 eingebunden.
Die Entscheidung über die Anschaffung und Einführung neuer (digitaler) Technik liegt allein beim Geschäftsführer, der als klassischer Firmenpatriarch agiert. Sein hierarchisches Verständnis einer Betriebsorganisation vertritt er ganz offen:
Ich bin seit 20 Jahren [hier]. Alles was hier steht hab ich erhungert.
Du brauchst immer eine Hierarchie. Du brauchst immer (…) jemanden, der weiß, wo es langgeht, also jedes Schiff hat einen Käpt‘n. Und jede Abteilung braucht genauso seinen Käpt‘n, wie eben halt ein Schiff, ja. Und ich bin jedenfalls der Flottenadmiral und ich versammle die dann immer und sage: Passt auf, wir machen jetzt das so und so und so. (GF)
3.3.2. Mitspracherecht „gen Null“
Die patriarchalisch-hierarchische Führungskultur prägt das Unternehmen und erfährt im Zuge der technischen Weiterentwicklung keinen sichtbaren Wandel. Dabei geht der Geschäftsführer ganz selbstverständlich davon aus, dass der Kurs mitgetragen wird: „Alle wollen das!“Tatsächlich teilen jedoch nicht alle Mitarbeiter die Technikbegeisterung und wünschen sich unabhängig davon mehr Partizipationsangebote. Obwohl die technikaffinen Mitarbeiter über ein hohes Kompetenzniveau verfügen, ist deren Mitspracherecht gering, auch was die Frage nach der Anschaffung von neuer Technik oder der Auswahl an Werkzeugen für die Maschinen betrifft.
Also wir als Maschinenbediener haben eigentlich wenig Mitspracherecht. Gen Null würde ich sagen. (…). Ob ich da jetzt immer alles davon genauso machen würde, sei erstmal dahingestellt, aber wir haben da wenig Mitspracherecht. (MB)
3.4 Technikakzeptanz und Herausforderung bei der Umsetzung
3.4.1. Angebotsdefizite bei IT-Dienstleistungen
Hindernisse des ausgeprägten Digitalisierungspfades des Unternehmens sind im IT-technischen Bereich auszumachen. Der Geschäftsführer beklagt einen Mangel an IT-Unternehmen, die kleine unternehmensspezifische Programme zur Anpassung von Standardsoftware schreiben. Es fehlen Anschlussmodule, um bestehende Systeme zu modifizieren und um neue, an den Bedarf des Unternehmens angepasste Funktionen zu ermöglichen. Der Geschäftsführer verortet einen Handlungsbedarf bei der Angebotslandschaft auf Landesebene:
Thüringen hat zum Beispiel eine ganz tolle IT-Landschaft. Aber bei uns in Thüringen gibt es keinen, der Programme schreibt, die … richtig für die Fertigung sind. Also wir erzählen zwar: ‚Und wir machen das und wir machen ERP-Systeme und IKT-Anpassung und machen SQL-Datenbanken, wir machen Blablabla.‘ Aber das einer sich hinsetzt und sagt, ich mache mal sowas, was so ein Betrieb braucht, ja, also, so Module schaffen, so Anschlussmodule. Das muss ich sagen, da drücken sich alle davor. Das ist so die niedrige Stufe, da können Sie bei den ganzen Firmen langgehen, das ist zu niedrig, das machen sie nicht. (GF)
3.4.2. Eingeschränkte Technikakzeptanz
Eine weitere Umsetzungshürde betrifft die Widerstände seitens der Beschäftigten. Obwohl die neuen Fertigungszellen effizienter arbeiten, können sie aktuell nur zu 30% ausgelastet werden, da viele Mitarbeiter die alten Maschinen gegenüber der neuen Anlage bevorzugen. Der Firmenpatriarch interpretiert dies als „Trägheit“. Obwohl er selbst immer wieder auf die große Technikaffinität seiner Mitarbeiter verweist, begründet er zugleich eine Verweigerungshaltung damit, dass „neue Technik nicht automatisch akzeptiert [wird]“.
Die Verweigerungshaltungen können jedoch auch auf die patriarchale Unternehmenskultur und fehlende Partizipationsangebote zurückgeführt werden. Beispielhaft hierfür steht die Anschaffung einer gebrauchten Fräsmaschine, die der Geschäftsführer ohne Rücksprache mit den Beschäftigten günstig erworben hat. Da diese eine andere Steuerung als die bisherigen Anlagen aufweist, vermeiden die Mitarbeiter konsequent deren Nutzung. Als Resultat wird die Maschine nach wenigen Monaten und „nach nur 30 Betriebsstunden verschrottet“ (GF).
4. Gesundheitliche Be- und Entlastung
4.1 Arbeitsinhalte /-aufgaben
4.1.1. Steigende Anforderungen aufgrund der Maschinenvernetzung
Übereinstimmend schildern Geschäftsführung und Beschäftigte, dass die Arbeit an den Fertigungsstrecken mit wachsenden qualifikatorischen Anforderung einhergeht. Statt ein oder zwei werden nunmehr acht vernetzte Maschinen bedient, bestückt und gewartet. Die Maschinenbediener an den Fertigungsstrecken müssen entsprechend mehr Planungs- und Organisationsaufwand betreiben als Beschäftigte an konventionellen Maschinenarbeitsplätzen.
Die Tätigkeitsprofile haben sich substantiell verändert, „von einer Rüst- und Beobachtungsaufgabe zu einer organisatorischen Sache“ (GF), bei dem man den gesamten Prozess von der Entwicklung bis zur Qualitätskontrolle im Blick behalten muss. Der Geschäftsführer betont die Wichtigkeit von vorausschauendem Überblickswissen und Kreativität:
Also man kann die Technik nicht aufhalten. Und ich hatte Ihnen das ja mal gezeigt was der Unterschied zwischen einem Fräser ist, der die Maschine beobachtet wie sie arbeitet und der, der an der Fertigungszelle ist, der eigentlich – während die Maschine arbeitet – überlegt, wie kann ich den nächsten Schritt organisieren.(GF)
4.1.2. Problemlösungskompetenzen gefragt
Dazu gehört auch die Erwartung an Problemlösungskompetenzen der Beschäftigten, um beispielsweise im Störfall eigenverantwortlich zu handeln.
Also ich habe [als Maschinenbediener] eigentlich mehr die Aufgabe, Fehler zu suchen. Warum macht die Maschine das nicht? Warum habe ich den und den Ausfall? (GF)
Wir hatten letzte Woche Freitag einen Totalausfall an der Fertigungsstrecke, wo gar nichts mehr ging, wo der Bediener eigentlich, tja, dann sich bewährt hat (…). Der musste im Prinzip die Reparatur veranlassen. Und da muss er cool bleiben, weil seine Aufträge drängeln. Und dann musst du das machen und Freitag hat auch keiner Zeit zu Ihnen herzukommen und das zu reparieren. (…) Und das sind so Kompetenzen, also so Problemlösungskompetenzen brauche ich. (GF)
4.1.3. Notwendigkeit erweiterter Entscheidungsspielräume
Entscheidungsspielräume für die Beschäftigten im Fallunternehmen resultieren aus der veränderten, heute stärker wissensintensiven Arbeit mit „gestiegenen technischen Ansprüchen“(GF). Auch eine höhere Verantwortung für Kosten und Auslastung geht mit einer notwendigen Eröffnung von Entscheidungsspielräumen einher, die zum Teil von den Beschäftigten – hier vor allem von den Jüngeren – gern angenommen wird.
Der junge Leiter der Fertigung verweist auf die gestiegenen Anforderungen und auf die Notwendigkeit, Entscheidungsspielräume zu nutzen. Zugleich deutet der Fertigungsleiter mit seiner Äußerung an, dass die Mitarbeiter eigentlich keine Wahl haben: „Wirklich auch Mitdenken“ wird zur Pflicht, andernfalls droht die „Aussortierung“.
Knöpfchendrücker können wir hier nicht gebrauchen. Nur ein klitzekleiner Fehler und das hat fatale Folgen in der Anlage. Weil ich habe nicht die Zeit mehr wie früher, wo ich nur zwei Maschinen hatte, die direkt nebeneinander standen, wo ich beide einsehen konnte. Du brauchst Leute, die wirklich auch mitdenken und alles andere haben wir eigentlich über die Jahre danach aussortiert. (FL)
4.1.4. Zunahme dezentralisierter Entscheidungen
Der Geschäftsführer beschreibt, wie sich Entscheidungskompetenzen nach unten verlagern. Der Abstimmungsbedarf mit Beschäftigten in der Arbeitsvorbereitung steigt und auch die Organisation des Wartungsprozesses und die Beschaffung von Ersatzteilen gehört zu den neuen Aufgabenfeldern der Maschinenbediener.
Also im Prinzip tut sich eine bestimmte Entscheidungskompetenz nach unten verlagern. (…) Wenn die Fertigungszelle kaputt ist und er muss sich darum kümmern, dass sie wieder läuft, dann … Früher hätte er das nicht gemacht, aber heute ruft er dort an, sagt: ‚Ich habe eine Fernbedienung. Ich brauche ein neues Relais. Ich brauche das und das.‘ Und dann bestellt er es auch oder holt sich das Angebot ein. (GF)
4.1.5. Erfahrungswissen als Voraussetzung für automatisierte Prozesse
Obwohl die Prozesse als autonom agierend programmiert werden, handelt es sich nach wie vor um ein Zusammenspiel aus automatisierten Abläufen und manuellen Tätigkeiten. Ein Maschinenbediener schildert am Beispiel der Eingabe von manuellen Befehlen die Bedeutung von Erfahrungswissen bei der Bedienung der Fertigungsstrecke.
Weil das ist ja immer ein Zwischenspiel zwischen manuellem Arbeiten und automatischen. Die Technik ist zwar schon gut, aber hat gewisse Probleme, wenn du in den Automatik-Kreis eingreifen willst manuell. Nehmen wir mal an, ich sage jetzt der einen Maschine – die hat ein Teil drauf, ‘ne Elektrode und das selbe bei allen anderen – ich sage: ‚Entlade mir das, entlade das, entlade das, entlade das!‘ Das sind viele Befehle, manuelle – da schmiert sie komplett ab. Das verkraftet sie nicht. Und das lernt man dann so im Laufe der Zeit. Und dann sagt man: ‚Okay, ich warte jetzt lieber 5 min., ehe die ihre Arbeit gemacht hat.‘ Und dann greife ich ein. Bevor ich jetzt eingreife und muss dann 10 Minuten nacharbeiten, um die Fehler wieder auszumerzen, die dann entstehen. (MB)
4.1.6. Technikvertrauen als Kennzeichen „psychischer Robustheit“
An konventionellen Maschinenarbeitsplätzen beobachten Beschäftigte die Maschine, um gegebenenfalls einzugreifen und Werkstücke zu retten. Auf der neuen Fertigungsstrecke ist diese Kontrollmöglichkeit nicht länger gegeben. „Der Mensch wird rausgenommen“, umschreibt der Geschäftsführer die Veränderung und formuliert das Anforderungsprofil eines „psychisch robusten“ Mitarbeiters.
Die Maschinenbediener werden insofern zum„Sklaven der Maschine“ (GF), als dass sie den automatisierten Abläufen vertrauen müssen. Gerade älteren Mitarbeitern fällt es schwer, auf die gewohnten Beobachtungs- und Kontrollmöglichkeiten während der Verarbeitungsprozesse am Werkstück zu verzichten.
Du musst dir wirklich so sicher sein, dass du Start drückst und gehst [dann] Heim. Und da gibt es halt auch den Typ Mensch, der das nicht kann. Wir haben vorne einen, der hat zwei Maschinen. Wenn du dem eine dritte gibst, ist der überfordert, weil er bei einer noch dreimal die Tür aufmacht und auch dreimal reinguckt. Und dann geht er zu anderen, da rennt er wieder rüber, guckt noch zweimal rein. Das hält dann halt auf. (FL)
Es nützt nichts, wenn sie ängstliche Kollegen haben. Der macht eigentlich den anderen mehr Arbeit. Es ist nichts, wenn sie jemanden haben, der kein Vertrauen hat. Der lässt es sich erst schriftlich geben, dass er die und die Arbeitsschritte ausführt. (GF)
4.1.7. Fehlende Technikprozesskontrolle als psychische Belastung
Der Maschinenbediener schildert den psychischen Druck, der daraus resultiert, dass sich der Bearbeitungsprozess in deutlich geringerem Maße beobachten lässt und Fehler erhebliche Auswirkungen haben.
Ich muss die Teile wirklich so rüsten, dass nichts passiert. Da darf kein Fehler passieren. Und wenn ich einen Denkfehler habe oder zum Beispiel an der Messmaschine meinen Nullpunkt nicht oben drauf lege, sondern auf eine verkehrte Ebene, weil ich auf der Zeichnung nicht richtig geguckt habe, dann klimpert‘s fünf Minuten später in der Maschine. (MB)
4.1.8. Software zur Techniküberwachung als psychische Entlastung
Teilweise laufen die Fertigungsanlagen über Nacht oder über das Wochenende, was als besondere psychische Belastung empfunden wird. Mittlerweile gibt es die Möglichkeit, die Anlagen über mobile Endgeräte mit der Software TeamViewerzu steuern und zu überwachen. Diese Kontrollfunktion wird seitens der Maschinenbediener als deutliche psychische Entlastung bewertet.
Früher war das [die Überwachungsmöglichkeit des Maschinenprozesses per Handy-Software] halt nicht so. Da haste dann doch mehr schlaflose Nächte gehabt, ob es wirklich alles funktioniert, oder dich gefragt: ‚Ist der Fräser noch dran? Ist der abgebrochen?‘ Das kannst du ja nicht nachvollziehen. Jetzt weiß ich genau, wenn der Fräser abbricht, wird der vermessen. [Dann] wird festgestellt: Der ist abgebrochen. Und dann nimmt er das Teil raus und macht das nächste Teil. (FL)
4.2 Arbeitsorganisation
4.2.1. Steigender Zeit- und Leistungsdruck
Ein Maschinenbediener beschreibt den wachsenden Leistungsdruck, der unter anderem aus den steigenden Anforderungen und der zunehmenden Verantwortung für eine Vielzahl an Maschinen resultiert.
Naja, ich sag mal, wenn man vorne nur drei Maschinen hatte zu bedienen, und jetzt hat man in der Anlage fünf Maschinen plus nochmal vorne die drei (…). Sicherlich ist der Leistungsdruck größer geworden. (MB)
Dieser Leistungsdruck wird jedoch nicht unbedingt negativ bewertet, sondern als Ausdruck der eigenen beruflichen Entwicklung interpretiert.
Ich sag mal, mit mehr Verantwortung hat man natürlich auch mehr Belastung. Aber wenn ich das nicht wollte, müsste ich wahrscheinlich nur zum Chef sagen, ich will den Posten nicht mehr. Ich möchte auch nur noch ein popliger Knöpfchendrücker sein. Dann wäre das wahrscheinlich auch nicht das Problem. Aber ich denke mal, das muss jeder für sich selber entscheiden. (MB)
Aus Sicht des Geschäftsführers spielt bei der Bewertung des Leistungsdrucks als Entwicklungschance das geringe Alter der Beschäftigten eine Rolle. Er verweist auf das Durchschnittsalter von 34 Jahren im Werkzeugbau und die Motivation der jungen Belegschaft sich im Unternehmen zu beweisen.
Wir haben ein Durchschnittsalter von 34 Jahren. Das heißt, das sind alles noch Leute, die sich in ihren Leben noch beweisen müssen. Das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt. (GF)
4.2.2. Flexibilisierte Arbeitszeiten nach Anlageerfordernis
Mit der Einführung der Fertigungsstrecken sind die Arbeitszeiten der Maschinenbediener flexibler geworden. Die Anlagen können über mobile Endgeräte mit der Software TeamViewer ferngesteuert werden. Für die Maschinenbediener ergibt sich die Möglichkeit, die Arbeit selbstständig zu planen und ggf. auch von zu Hause aus die Anlage zu überwachen.
Ich hab hier eine TeamViewer App drauf, und mit dem TeamViewer verbinde ich mich dann einfach mit der Anlage draußen – kann ich beide Anlagen auswählen, das ist jetzt hier genau der Bildschirm der auch draußen ist. Und kann dadurch über auch TNC-Remo, was so eine Software ist, kann ich ja direkt auf die Maschine zugreifen, Fräser einbauen, Namen ändern, Laufzeiten. Ich kann alles machen. Das einzige was ich nicht machen kann, ich kann nicht an der Maschine Start drücken (…). Aber ansonsten, mir stehen eigentlich alle Möglichkeiten genauso hierdrüber zu wie wenn ich hier auf Arbeit bin. Nur dass ich noch keinen habe, der mir die Teile draufpackt. (MB)
Die [Maschinenbediener] kommen also von selber drauf, dass sie also wenn alles läuft, also wenn die Wartungen und Instandhaltungen fertig gemacht sind, dann gehen sie nach Hause. Dann nehmen sie sich das iPad und wenn das piep macht, kommen die auf Arbeit und bringen alles wieder in Ordnung oder bringen das von Zuhause aus in Ordnung. Also er [der Maschinenbediener]ist so flexibel, dass er sagt, ich kann meine Arbeit selber einstellen und ich kann mich auch selber überwachen. (GF)
4.2.3. Entgrenzung von Arbeit und Leben
Im Umkehrschluss besteht die Gefahr einer Entgrenzung von Arbeit und Privatleben. Der Fertigungsleiter ist ständig erreichbar und berichtet von regelmäßigen Anrufen der Mitarbeiter auch außerhalb der Arbeitszeit. Im Störfall fallen auch Wochenendeinsätze an, wobei der Geschäftsführer gegebenenfalls persönlich die An- und Abfahrt zum Firmengelände ermöglicht.
Es sind auch viele Leute, die sagen: Ich bin meine acht Stunden hier und danach ist Feierabend. Das kannste nicht. (…) Ich bin außer von nachts um 12 bis früh um 5, da möchte ich mal bitte schlafen, aber ansonsten können mich die Kollegen jederzeit anrufen. Ich hab mein Handy immer dabei und (…) also ich sag mal alle zwei Tage krieg ich einen Anruf. Hier das Problem, wie geht das, dann nehme ich mein Handy egal wo ich bin und gucke da, ja hier da haste einen Fehler gemacht, das musste so und so machen damit das geht, und diese Bereitschaft bringt auch nicht jeder Mensch mit sich.
„Wenn Sie einen haben, wie z.B. den [Mitarbeitername] da, der ruft mich eben Sonnabendabend [an] und sacht: ‚Chef ich sitz in der Kneipe, wenn Sie mich jetzt holen, bring ich die Maschine in Ordnung müssen mich aber wieder herbringen‘. Da hol ich den [Mitarbeitername], drückt er hier drei Knöpfe, die von zuhause nicht möglich sind und dann fahr ich ihn halt wieder in seine Kneipe. Das ist möglich.
4.2.4. Unklarheit bei Regelung von Bereitschaftsdienstzeiten und Verantwortung
Die neuen, mit der Fernsteuerung und -überwachung der Maschinen einhergehenden Möglichkeiten der Arbeitsorganisation bedeuten für das Management einen Kontrollverlust. Der Geschäftsführer begrüßt einerseits die Flexibilität, beklagt aber andererseits das die Arbeitsleistung im Zuge der Überwachung von zu Hause schwer mess- und kontrollierbar ist. Aus seiner Sicht handelt es sich um betriebsübergreifende Fragestellungen, auf die gesellschaftliche Regelungen gefunden werden müssten.
Wenn [Mitarbeitername] sagt: ‚Warte, ich hab das iPad daheim, ich hab da TeamViewer drauf‘ (…) und ist das jetzt Bereitschaft oder keine Bereitschaft die er da macht? Der braucht jetzt acht Stunden nicht drauf zu gucken, aber er muss dann sagen: ich hab mir ein Alarm eingestellt, wenn sie [die Maschine] stehen bleibt macht es ‚Piep‘. Und dann ist das iPad gerade auf der Toilette, während er sich die Zähne putzt und dann hört er den ‚Piep‘ nicht. Und so Fragen, wie: ‚Wie bringe ich mich ein? Wie kontrolliere ich das?‘ usw. und was ist die Antwort der Gesellschaft auf solche Sachen? Also wir haben keine Antwort der Gesellschaft auf solche komplizierten Vorgänge, die gibt es noch nicht. (GF)
4.3 Soziale Beziehungen, Kommunikation und Kooperation
4.3.1. Hierarchische und partizipationsarme Unternehmenskultur
Auch aufgrund einer fehlenden Interessenvertretung gelingt es dem Geschäftsführer ein junges, digitalaffines Mitarbeiterteam zu formen, dass sich trotz wachsender Qualifikationsanforderungen und einer Dezentralisierung von Kompetenzen in eine hierarchische und partizipationsarme Unternehmensorganisation fügt. Die Kommunikations- und Kooperationskultur ist stark von einer Unternehmenskultur geprägt, in der die Mitarbeiter nur wenige Partizipationsspielräume haben. Statt etablierter Informations- und Kommunikationsforen findet überwiegend ein informeller Austausch zwischen den Beschäftigten statt.
4.3.2. Generationenkonflikte
Die entscheidenden Veränderungen im Werkzeugbauunternehmen hat der Geschäftsführer mit den jüngsten Facharbeitern und Technikern realisiert und sie in kürzester Zeit in Leitungspositionen befördert. Einige ältere Beschäftigte „sind freiwillig gegangen“(Geschäftsführer), weil sie den technologischen Neuerungskurs nicht mittragen konnten oder wollten. Die personellen Veränderungen prägen die sozialen Beziehungen im Unternehmen. Sowohl der Geschäftsführer als auch der junge Fertigungsleiter berichten über Widerstände und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit. Ein Teil der Belegschaft stellt sich der hohen Veränderungsdynamik entgegen und arbeitet beispielsweise lieber an konventionellen Maschinen als an den Fertigungsstrecken, die nur zu 30% ausgelastet werden können. Besonders zwischen den jungen technikaffinen Leitungskräften und den älteren Mitarbeitern gibt es Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit.
„Das [Ersatzteile ohne Rücksprache bestellen] wird dann so mal nebenbei unten- oder hintenrum gemacht. Also sicherlich, ein perfektes Team sind wir auch nicht da draußen. Es gibt immer irgendwo den einen Kollegen der vielleicht mir auch ans Leder will, weil er sagt ich würde den Job auch gerne machen. (FL)
Ich bin ja nun einer, nicht einer, ich bin der jüngste von allen Kollegen. Die sind alle älter als ich und [Interviewer: „Sie müssen sich immer gegen die durchsetzen?“], genau, und das ist halt auch schon sehr schwierig. (FL)
4.3.3. Entwertung von Erfahrungen
Der Aufbau der automatischen Fertigungsstrecken hat dazu geführt, dass viele ältere Beschäftigte nicht in der Lage oder nicht gewillt waren, sich auf die verändernden Bedingungen einzustellen und daher das Unternehmen verlassen haben. Nach der Interpretation des Geschäftsführers, konnten diese Mitarbeiter nicht mit dem technologischen Wandel im Unternehmen mithalten. Angesichts der gestiegenen Komplexität vernetzter Prozesse, erweist sich ihr bisheriger Erfahrungsvorteil als fragil. Sowohl der Geschäftsführer als auch der Fertigungsleiter schildern Verweigerungshaltungen, die sie auf einen fehlenden Willen etablierte Routinen zu verändern zurückführen.
Also, ich möchte den Leuten nicht zu nahe treten, aber ich weiß nicht ob es vielleicht auch was mit dem Alter zu tun hat. ‚Ich hab in seiner Sichtweise, ich hab das jetzt 30 Jahre so gemacht und es hat funktioniert, warum soll ich das ändern?‘. Den einen Kollegen haben wir verloren wo wir damals mit der Messmaschine auf das Palettensystem gegangen sind. Das war einfach nicht ihm so beizubringen und der hat halt seine Teile in der Maschine gemacht und war der Meinung, dass diese Messmaschine Müll ist. (…) Er war ein Top Fräser, kann man nichts sagen. Aber diese Engstirnigkeit, dass er nicht voran wollte hat ihm sozusagen das Genick gebrochen. (FL)
Dabei sind es nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch Persönlichkeitsmerkmale, die das neue Anforderungsprofil kennzeichnen. Die Arbeit an den automatischen Fertigungsstrecken erfordert dem Geschäftsführer zufolge Vertrauen in die Technik und „psychische Robustheit“. Der Mensch werde „ein Stück weit zum Sklaven der Maschine und das muss man erst mal aushalten.“ (GF)
4.4 Körperliche Belastungen unverändert
Die Vernetzung des Maschinenparks und der Aufbau der Fertigungsstrecken haben keinen Einfluss auf die physische Belastung der Beschäftigten. Hauptbelastungen sind einerseits das lange Stehen und andererseits das Heben von Stahlteilen. Zwar gibt es für größere Gewichte Hebevorrichtungen, allerdings geht deren Nutzung aufgrund des Eigengewichtes ebenfalls mit körperlichen Anstrengungen einher.
Das Hauptproblem ist, dass ein Werkzeugmacher immer noch mit Stahl zu tun hat und Stahl ein Gewicht hat. (…) Das ist einfach so eine Dauerbelastung, ich sag jetzt mal, 10 Kilo muss ich eigentlich immer bewegen (…) da brauchst du schon eine bestimmte Konstitution. 10 Kilo deshalb, das wiegt bei uns der Magnet, damit ich etwas hochheben kann. Das Heben und das lange Stehen sind die physischen Belastungen. (GF)
4.4.1. Verzicht auf Schutzmaßnahmen aufgrund von Zeitdruck
Ein Maschinenbediener schildert, dass er aus Zeitdruck häufig auf die Nutzung einer Hebevorrichtung verzichtet und die Teile selbst in die Maschine hebt.
Ich nehme auch die Teile und heb da 30 Kilo so rein ehe ich ein Kran nehme, weil ich sonst mein Arbeitsziel, was ich selber mir setze, nicht schaffen würde am Tag. Und sicherlich hört sich das jetzt vielleicht ein bisschen blöd an, aber ehe ich jetzt den Kran geholt habe und mir da die Verlängerung drangebaut habe, weil das extra so ein Greifer ist für die Paletten, das hält halt doch alles auf. Wenn ich sechs Paletten am Tag oder acht Paletten am Tag mache summiert sich das ja doch schon zu vielleicht einer halben Stunde die mir dann fehlt. Und deswegen mach ich das halt so.
4.5 Unfälle
4.5.1. Verlässliche Schutzmaßnahmen der automatischen Fertigungsstrecken
Das Aufkommen an Arbeitsunfällen hat sich durch die technologische Entwicklung und die fortschreitende Digitalisierung im Unternehmen nicht verändert. Dem Geschäftsführer zu Folge stehen Arbeitsunfälle in der Regel nicht im Zusammenhang mit den Maschinen, die während ihres Betriebes abgeriegelt sind. Die Fertigungszellen sind zusätzlich mit durchsichtigen Stellwänden innerhalb der Werkhalle abgetrennt und können während des Betriebes nicht betreten werden. Werden Sicherheits- oder Maschinentüren geöffnet, werden alle Bearbeitungsprozesse sofort unterbrochen.
Seit wir die automatischen Fertigungsstrecken haben ist nichts vorgefallen. (…) Ich bin der Meinung es ist fast unmöglich da einen Arbeitsunfall zu erleiden. (FL)
Von der Sache her man kann sich da nichts tun, weil sobald ich irgendeine Tür aufmache oder irgendwas drücke an irgendwelchen Sicherheitstüren oder Maschinentüren, hält alles an, dann geht keinerlei Bearbeitung weiter. Also es ist nicht möglich sich da irgendwo wehzutun. Das einzige was passieren kann auf dem Weg vom Rüsten bis zum Beladen der Anlage. Wenn dir da die Palette runterfällt und schrubbst du dir das Knie auf. Aber ansonsten ist es eigentlich nicht möglich.(MB)
4.5.2. Klassische Arbeitsunfälle häufig durch Umgehung von Schutzmaßnahmen
Arbeitsunfälle ereignen sich hauptsächlich durch scharfe Stahlkanten an den Werkstücken oder an Schleifmaschinen, wenn Beschäftigte entgegen der Arbeitsschutzbelehrungen auf eine Schutzbrille verzichten.
Unsere Arbeitsunfälle, die kommen nicht von den Maschinen. Unsere Arbeitsunfälle sind meistens Blödheiten, wenn Mitarbeiter, also bewusst oder unbewusst, Arbeitsschutz vernachlässigt haben. Du kannst sie dreimal belehrt haben, dass sie die Brille aufsetzen, wenn sie an der Schleifmaschine sitzen. Und dann kommt: Klassische Arbeitsunfälle häufig durch Umgehung von Schutzmaßnahmen‚Ich will ja nur mal schnell‘. Und das passiert dann. (…) Die meisten Verletzungen sind eigentlich irgendwo, dass einer eine Stahlkante vergessen hat zu entgraten und dann natürlich mal kuckt, ob Haut stabiler ist als Stahl. (GF)
5. Arbeits- und Gesundheitsschutz
Im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wird im Betrieb das sogenannte Unternehmermodell praktiziert. Ein Teil der sicherheitstechnischen Betreuung wird durch den Geschäftsführer gewährleistet, der an den von der Berufsgenossenschaft festgelegten Seminaren bzw. Fernlehrgängen über Arbeitsschutz teilnimmt und eine Gefährdungsbeurteilung erstellt hat. Zusätzlich gibt es eine externe Sicherheitsfachkraft, die in den gesetzlich vorgeschriebenen Intervallen Arbeitsschutzbelehrungen durchführt. Die Belehrungen sind nach Auskunft des Fertigungsleiters Standardunterweisungen, die nicht auf die automatischen Fertigungsstrecken zugeschnitten sind.
Da hat sich einer bei uns den Fuß verknackst, daraufhin wurde ich verdonnert eine Schulung zu machen als Sicherheitsfachkraft. (…) Und dann war das Unternehmermodell, so schlimm ist das gar nicht, weil Gefahren einschätzen und Gefahren bezeichnen und beziffern und dergleichen musst du sowieso und deshalb haben wir das getan. Natürlich haben wir ab und zu mal auch jemanden Externen hier, der die ganzen Belehrungen vornimmt, weil die Belehrungen sind ja nun ständig wechselnd. (GF)
5.1. Kein modernisiertes betriebliches Gesundheitsmanagement
Mit der fortschreitenden Digitalisierung und der Etablierung der automatischen Fertigungsstrecken hat es im betrieblichen Gesundheitsmanagement keine Anpassungen gegeben. Die Maßnahmen im Arbeits- und Gesundheitsschutz zielen auf die Reduktion von körperlichen Anforderungen, darunter vor allem langes Stehen und schweres Heben. Es gibt beispielsweise Fußbodenfließen, die die Belastungen durch langes Stehen reduzieren. An einigen Maschinenarbeitsplätzen wurden zudem spezielle Stühle angeschafft, um Stehzeiten zu reduzieren.
Das beginnt bei sowas Primitivem wie zum Beispiel das Stehen an der Werkbank. Also der Untergrund war Beton mit drauf. Dort haben wir Fußbodenfliesen hingelegt, ganz einfach, weil die eben halt 10 mm weich sind und dann am Abend haben die ein ganz anderes Gefühl, als wenn sie den ganzen Tag auf dem harten Boden gestanden haben. Wir haben auch Matten und dergleichen schon ausgelegt, das wird aber wieder nicht angenommen, weil das große Problem, wenn was durchfällt, musst du sie wegräumen. Und das ist viel zu viel Arbeit, da tut dir lieber das Kreuz weh. (GF)
6. Personalmanagement
6.1. Schwierigkeiten bei Personalrekrutierung
Der Geschäftsführer beklagt Rekrutierungsschwierigkeiten, die er zumindest teilweise auf die sich verändernden Anforderungen an die Beschäftigten zurückführt. Er führt aus, dass von sehr vielen Interessenten nur sehr wenige den Ansprüchen der Geschäftsführung genügen. Er begründet dies damit, dass sich aufgrund des technischen Wandels die Anforderungen gegenüber einem klassischen Metall- oder Kunststoffhersteller so sehr unterscheiden, dass„auch Leute mit Metall- oder Kunststoffberufen, dann erstmal eine gewisse Einarbeitungszeit, Umorientierung und Anpassung brauchen“(GF).
6.2. Probleme bei Personalbindung
Neue und sich verändernde Anforderungen erschweren nicht nur die Rekrutierung, sondern auch die Bindung des Personals. Der Aufbau der automatischen Fertigungsstrecken hat dazu geführt, dass viele ältere Beschäftigte nicht in der Lage oder nicht gewillt waren, sich auf die verändernden Bedingungen einzustellen und daher das Unternehmen verlassen haben. Angesichts der gestiegenen Komplexität vernetzter Prozesse, erweist sich ihr bisheriger Erfahrungsvorteil als fragil. Aber auch unter den jüngeren Beschäftigten ist die Fluktuation hoch. Nach Auskunft des Geschäftsführers verlässt ein Teil der Mitarbeiter das Unternehmen, weil es an Aufstiegsmöglichkeiten fehlt.
Also das Problem bei uns besteht da drin, dass wir 36 Leute sind von den 36 Leuten möchte jeder; also junge Leute haben das Ziel, in der Karriereleiter nach oben zu klettern. Wenn sie bei VW arbeiten würden, haben sie, ich glaube, 18 Stufen der tariflichen Verbesserung. Also falls sie jedes Jahr eine Stufe nehmen können. Das ist bei uns nicht der Fall. Also bei uns gibt es einfach nur ‚ich kann das oder ich kann das nicht‘. Und das heißt also ‚ich bin qualifiziert dafür oder ich bin nicht qualifiziert dafür‘. Ich kann erodieren, ich hab es nachgewiesen, ich kann Erodier-Aufgaben lösen oder ich bin es nicht. Das ist etwas, was noch nicht im Griff ist.
Die Rekrutierung und Bindung von Beschäftigten wird dadurch erschwert, dass das Unternehmen in einer ländlichen, eher strukturschwachen und von einer Abwanderungsdynamik gekennzeichneten Region produziert.
6.3. Grenzen des Wissenstransfers
Die Bedienung der automatischen Fertigungsstrecken bringt neue Anforderungen mit sich, die sich vom konventionellen Profil eines Werkzeugmachers unterscheiden. Dies stellt auch die Wissensvermittlung im Unternehmen vor besondere Herausforderungen. Die einzelnen Arbeitsschritte sind in Ordnern dokumentiert, ebenso wie Tipps und Tricks, die sich aus dem Erfahrungswissen der Beschäftigten speisen. Die Gesamtübersicht über die Vielzahl an Bearbeitungsprozessen und die notwendigen organisatorischen Fähigkeiten lassen sich jedoch nach Ansicht des Fertigungsleiters nur schwer vermitteln.
Das Erfahrungswissen, wie jetzt so bestimmte Kniffe und sowas, das haben wir alles Aufgeschrieben. Das ist alles in Ordnern drinne. (…) Das ist alles hinterlegt. Aber dieses Organisatorische, wie soll man das jemanden beibringen? Entweder er kanns, oder er kanns nicht. Ich wüsste auch nicht wie man sowas jemanden beibringen soll. (FL)
Das ist ja auch dieses ganze Drumherum noch. Ich hab jetzt zweihundert Elektroden da drin, ich hab acht Teile drinne, von verschiedensten Kunden, die unterschiedlichste Bearbeitungsstände haben. Das ein ist gefräst, das andere muss noch erodiert werden, die eine Elektrode – da ist was Besonderes, ich hab jetzt vier Elektroden, weis ich genau was für welche das sind die müssen noch eine zweite Aufspannung kriegen und und und. Man muss diese Gesamtübersicht haben und da gibts auch nicht viele Kollegen die das hinbekommen. (FL)
6.4. Technischer Wandel ohne Auswirkungen auf patriarchalische Unternehmenskultur
Der Geschäftsführer hat das Unternehmen aufgebaut und agiert als klassischer Firmenpatriarch. Sein hierarchisches Verständnis einer Betriebsorganisation vertritt er ganz offen:
Ich bin seit 20 Jahren [hier]. Alles was hier steht hab ich erhungert. Aber sehen Sie, ich hab eigentlich die Komfortzone, wie Sie so schön sagen, hab ich nie gehabt.
Du brauchst immer eine Hierarchie. Du brauchst immer (…) jemanden, der weiß, wo es langgeht, also jedes Schiff hat einen Käpt‘n. Und jede Abteilung braucht genauso seinen Käpt‘n, wie eben halt ein Schiff, ja. Und ich bin jedenfalls der Flottenadmiral und ich versammle die dann immer und sage: Passt auf, wir machen jetzt das so und so und so. (GF)
Die patriarchalisch-hierarchische Führungskultur prägt das Unternehmen und erfährt im Zuge der technischen Weiterentwicklung keinen sichtbaren Wandel. Der Geschäftsführer fühlt sich dem Wohl der Mitarbeiter verpflichtet, erkundigt sich nach privaten Problemen, hilft mit Krediten aus oder bezahlt Führerscheinprüfungen, wenn Auszubildende das Rauchen aufgeben. Als Gegenleistung erwartet er die Einordnung in eine hierarchische und partizipationsarme Unternehmenskultur. Trotz des ausgeprägten Digitalisierungspfades sind alle Entscheidungen Chefsache. Der technologische Entwicklungspfad basiert zwar auf einer wachsenden Produktionsintelligenz der Beschäftigten führt aber nicht zu flacheren Hierarchien, mehr Transparenz, Beteiligung oder Kooperation.